D. Vaucher: Sklaverei in Norm und Praxis

Cover
Titel
Sklaverei in Norm und Praxis. Die frühchristlichen Kirchenordnungen


Autor(en)
Vaucher, Daniel
Reihe
Sklaverei – Knechtschaft – Zwangsarbeit
Erschienen
Hildesheim 2017: Georg Olms Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 358 S.
Preis
€ 68,00
von
Andreas Burri

Die anzuzeigende Arbeit steht in einem Spannungsfeld zwischen deskriptiver Geschichtsschreibung und normativer Fragestellung. Sie wurde im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts Eine Frage der Ungerechtigkeit? Sklaverei und Freiheitsdiskurse zwischen Antike und Moderne (VII) verfasst und in der Reihe Sklaverei – Knechtschaft – Zwangsarbeit. Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte (herausgegeben von Elisabeth Herrmann-Otto) publiziert.

Die Dissertation will «mit der Untersuchung der frühen Kirchenordnungen auf die Sklaverei hin eine der Forschungslücken füllen und gleichzeitig diese Quellengattung, die bislang vor allem von Theologen und Patristiker zur Kenntnis genommen wurde, der historischen Forschung zugänglich machen» (S. VII). Anlass zu diesem «Vermittlungsunterfangen» sei die auf Missverständnissen beruhenden Kontroverse, welche die Frage nach der Verbindung zwischen (antikem) Christentum und Sklaverei ausgelöst habe (vgl. S. 4–11). Vaucher will diese Missverständnisse klären, indem er die Motive für ein Verhalten analysiert, das als solches oder in seinen Resultaten als unmoralisch gedeutet wird.

Unter Kirchenordnungen versteht Vaucher «eine Reihe von anonymen oder pseudonymen Schriften, die Christengemeinden mit dem Anspruch apostolischer Autorität zu regulieren versuchten» (S. 13) und damit «problemorientiert» als «Kampf zwischen den Fälschungen [in einer] Konkurrenzsituation» (S. 58). Die historische Analyse steht unter dieser Prämisse in einem weiteren Spannungsfeld. Einerseits gelte: «Wir sollten nicht den Fehler begehen, jedes dieser Schreiben als Polemiken gegen weitverbreitete Phänomene zu sehen» (S. 62). Andererseits ist methodisches Anliegen, «danach [zu] fragen, was die Texte nicht sagen» (S. 63), woraus «sich Rückschlüsse auf das soziale Verhalten in den Gemeinden und darüber, wie das Christentum mit der Sklaverei umging» (S. 14), ziehen liessen.

In chronologischer und normativ-autoritativer Hinsicht beginnt Vaucher mit dem deutero- / paulinischen Briefcorpus. Bei Paulus sieht er eine christologisch begründete soziale Grundlage der  γάπη, welche die sozialen Status theoretisch zu egalisieren vermag, wobei er auch auf jüdische und heidnische «Utopien» (S. 80) verweist (vgl. S. 65–68, 78–83, 91 f., 261).

Bezeichnend sei nun, dass a) diese theoretisch gegebene Egalität mit der antiken sozial-praktischen Realität nicht übereinstimme und es daher zu autoritativen Konformitätsbestrebungen komme, und dass b) bereits Urgemeinden eine Ekklesiologie der «Reinheit » (S. 82) vertreten, die Sklaven den Zutritt zur Gemeinde erschweren könne. Diese beiden Thesen a) und b) beinhalten folgende Grundgedanken:
a) Vaucher interpretiert, dass dem aus heutiger Sicht negativen wie (scheinbar) positiven Umgang mit Sklaven teils ein «souci de soi» (S. 231) zugrunde liege. Zum negativen Umgang zähle die Gehorsamsaufforderung, differenziert-mehrdeutig angefangen beim Kolosserbrief und den Pastoralbriefen bis eindeutiger in Kirchenordnungen wie der Zwei-Wege Lehre, der Traditio Apostolica und den Apostolischen Konstitutionen. Als Motiv identifiziert Vaucher die Sorge, mit der Botschaft der sozialen Egalität von Christus und Paulus im heidnischen Umfeld Feindschaft zu provozieren, was eine «‘falsche Tradition’» (S. 99) bewirke. Diese nehme ihren Ausgangspunkt vor allem in der Bekämpfung

von anderen Lehren, habe aber dennoch Eingang in die Kanonisierung gefunden. Damit kann nach Vaucher davon ausgegangen werden, dass mit der christlich-paulinischen Botschaft vorherrschende Sozialstrukturen teilweise aufgebrochen wurden (vgl. S. 9 f., 91 f., 96–110, 118, 122, 134–139). Doch auch positiven Handlungen wie Freilassung oder Freikauf liege gelegentlich dieser souci de soi zugrunde: So seien Sklaven beispielsweise aufgrund des Patronats und damit der Missionierung oder zur Steigerung der dignitas beziehungsweise virtus des Gönners befreit worden. Letzteres könne auch Motiv sein für die Aufforderung, Sklaven milde zu behandeln. Bei Heiden wie bei Christen dürfe aber auch eine aufrichtige Sorge um Sklaven an sich vermutet werden (vgl. S. 111–115, 197–221, 225).

b) Vaucher verweist auf Reinheitsvorschriften, die vor allem den Bereich der Sexualität, den im römischen Imperium tendenziell mit Idolatrie verbundenen öffentlichen Dienst und das Töten beim Gladiatorenkampf betreffen. Dabei hätten sich Sklaven in / vor Gemeinden in einer schwierigen Lage befunden, da sie sich vermehrt in diesen Tätigkeiten wiederfanden und nicht frei entscheiden konnten, ob sie diese überhaupt verrichten wollten. Vaucher verweist auf die Berufsverbote der Traditio Apostolica, die bei konsequenter Einhaltung den Sklaven einen Beitritt zur Gemeinde erschweren bis verunmöglichen konnten (vgl. S. 121–130, 134 f., 175–193, 232–246).

Aus diesem Grund formuliert Vaucher an gewissen Kirchenordnungen beziehungsweise Teilen davon moralische Kritik, die jedoch wieder relativiert wird: «Grundsätzlich lässt sich eine schlichte Abfolge und Übernahme von Normen von der Frühzeit bis in die Spätantike nicht ausmachen. Vielmehr stehen wir vor verschiedenen Aussagen verschiedener Autoren, die allesamt postulieren, die Norm bekannt zu geben.» (S. 148) Da die Kirchenordnungen in ihrer «Problemorientiertheit» schwer zu fassen sind, ist fraglich, inwiefern sie Grundlage für eine abgeschlossene normative Bilanz sein können. Dazu kommt die von Vaucher beschriebene Problematik, dass nur wenige Zeugnisse von Sklaven selbst überliefert sind (vgl. S. 10). Weiter ist fraglich, inwiefern heutige Standards mit hineinspielen, wenn über die Absenz von Sachverhalten ein normatives Urteil gefällt wird. Damit soll kein moralischer Relativismus vertreten werden: Geschichte muss normativ bewertet werden, insofern auch der antike Mensch eben zur Gattung Mensch gehört. Nebst einem Fokus auf Zeugnisse, deren Kontextualisierung (nota bene mit Bezug darauf, was sie nicht sagen) äusserst spekulativ bleibt, wäre aber für den kulturhistorischen Rahmen dieser Forschung auch die Frage interessant, was diese antiken Menschen überhaupt unter Freiheit, Würde, Individuum, Glück, Moral, und eben: Sklaverei verstanden.

Die Dissertation ist methodisch wie inhaltlich in die zu Beginn erwähnte und im vorherigen Abschnitt beschriebene Spannung zwischen normativer Fragestellung und deskriptiver Geschichtsschreibung eingebunden. Dass Vaucher wiederholt kritisch die «problemorientierte» Perspektive einnimmt (vgl. beispielsweise S. 99, 105, 116, 148), zeugt von kompetenter Forschung. Das Spannungsfeld der hier thematisierten interpretatorischen Sensibilität wird von Vaucher also insofern gemeistert, als er die methodischen Prämissen, die durchaus ihre Berechtigung haben, wiederholt relativiert und einen differenzierten Zugang zu diesem komplexen Unterfangen verfolgt. Dazu kommt, dass die Dissertation auf einer sehr breiten Literaturgrundlage aufbaut, die Vaucher kritisch-souverän für die Formulierung eigenständiger Thesen nutzt.

Zitierweise:
Andreas Burri: Daniel Vaucher: Sklaverei in Norm und Praxis. Die frühchristlichen Kirchenordnungen, Hildesheim: Georg Olms Verlag, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 454-455.